Die Wasserwirtschaft steht an einem Wendepunkt: Nachhaltigkeit und Digitalisierung entwickeln sich...
Langfristige Wasserbedarfsprognosen in Theorie und Praxis

In Zeiten zunehmender Unsicherheiten durch Klimawandel, wachsende Städte und sich wandelnde Konsummuster rückt eine oft unterschätzte Frage in den Fokus: Wie viel Trinkwasser wird unsere Gesellschaft in Zukunft benötigen – und wo? Die Antwort darauf ist alles andere als trivial, denn sie berührt zentrale Aspekte der Daseinsvorsorge, der Infrastrukturplanung und des nachhaltigen Ressourcenmanagements. Wasserbedarfsprognosen spielen dabei eine Schlüsselrolle: Sie ermöglichen es, Entwicklungen frühzeitig zu erkennen, Versorgungssysteme gezielt auszurichten und knappe Mittel effizient einzusetzen. Doch wie werden solche Prognosen eigentlich erstellt – und wie zukunftsfähig sind die bisherigen Ansätze?
Wasserbedarfsprognosen als strategisches Steuerungsinstrument
Langfristige Wasserbedarfsprognosen (WBP) sind für eine nachhaltige Planung und Bewirtschaftung der Trinkwasserversorgung unerlässlich. Sie dienen als Grundlage für Infrastrukturentscheidungen, Risikoanalysen und Investitionen. Gleichzeitig werden sie durch sich verändernde Einflussfaktoren wie Klimawandel, Urbanisierung oder neue Verbrauchsgewohnheiten zunehmend herausgefordert.
Vor diesem Hintergrund gewinnen WBP als strategisches Steuerungsinstrument weiter an Bedeutung. Sie ermöglichen es den Versorgern, frühzeitig auf mögliche Engpässe oder Überkapazitäten zu reagieren und flexible Anpassungsstrategien zu entwickeln. Darüber hinaus schaffen sie Transparenz gegenüber politischen Entscheidungsträgern, Aufsichtsbehörden und der Öffentlichkeit und stärken damit das Vertrauen in eine vorausschauende Wasserwirtschaft.
Die Qualität und Aussagekraft von Wasserbedarfsprognosen hängt jedoch maßgeblich von der Verfügbarkeit und Qualität relevanter Daten ab. Neben demografischen Entwicklungen und klimatischen Trends müssen auch sozioökonomische Faktoren, technologische Innovationen (z.B. wassersparende Haushaltsgeräte) und regulatorische Rahmenbedingungen berücksichtigt werden. Moderne Prognosemodelle integrieren daher zunehmend Szenarioanalysen und nutzen datenbasierte, zum Teil KI-gestützte Methoden, um Unsicherheiten systematisch abzubilden.
Nicht zuletzt fördern WBP auch den interdisziplinären Dialog - etwa zwischen Stadtplanung, Umweltbehörden und Wasserversorgern - und leisten damit einen wichtigen Beitrag zu einer integrierten und resilienten Daseinsvorsorge im Sinne einer nachhaltigen Stadt- und Regionalentwicklung. Um die Wasserbedarfsplanung zukunftsfähig aufzustellen, bedarf es daher nicht nur technologischer Innovationen, sondern auch eines strukturellen Wandels in der Prognosepraxis - hin zu mehr Offenheit, interdisziplinärem Austausch und methodischer Vielfalt.
Die Praxis: Traditionell, pragmatisch – aber limitiert
Eine Analyse der 50 größten deutschen Städte zeigt: In der Praxis dominieren klassische Verfahren wie lineare Trendextrapolation, ökonometrische Ansätze oder Expertenschätzungen. Die Prognosen sind meist Teil umfassender Versorgungskonzepte und methodisch nur selten transparent dokumentiert. Moderne, datengetriebene Verfahren wie künstliche Intelligenz oder simulationsbasierte Ansätze kommen bisher kaum zum Einsatz.
Dieses traditionelle Vorgehen hat sich in vielen Fällen als pragmatisch und handhabbar erwiesen - insbesondere bei stabilen Rahmenbedingungen und klaren Entwicklungstrends. Angesichts zunehmender Unsicherheiten und komplexer Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Einflussfaktoren stoßen diese Methoden jedoch zunehmend an ihre Grenzen. Sie neigen dazu, bestehende Entwicklungen linear fortzuschreiben und können daher plötzliche Umbrüche oder nichtlineare Effekte - etwa durch klimatische Extremereignisse, Technologiesprünge oder politische Maßnahmen - nur unzureichend abbilden.
Darüber hinaus erschwert die oft fehlende methodische Transparenz eine kritische Bewertung der Ergebnisse und den Wissenstransfer zwischen Kommunen. Damit bleiben wichtige Potenziale zur Standardisierung und Qualitätssicherung ungenutzt. Auch der Dialog zwischen Praxis und Forschung wird dadurch erschwert, was wiederum die Innovationsdynamik hemmt.
Der geringe Einsatz moderner Verfahren wie maschinelles Lernen oder stochastische Simulationsmodelle ist häufig auf mangelnde Datenverfügbarkeit, fehlendes Fachpersonal oder auch institutionelle Trägheit zurückzuführen. Gleichzeitig zeigen Pilotprojekte und Forschungsvorhaben, dass solche Ansätze durchaus in der Lage sind, sowohl die Prognosegenauigkeit als auch die Entscheidungssicherheit zu erhöhen - vorausgesetzt, sie werden sinnvoll mit domänenspezifischem Wissen kombiniert.
Um die Wasserbedarfsplanung zukunftsfähig zu machen, bedarf es daher nicht nur technologischer Innovationen, sondern auch eines strukturellen Wandels in der Prognosepraxis - hin zu mehr Offenheit, interdisziplinärem Austausch und methodischer Vielfalt.
Die Wissenschaft: Innovativ – aber schwer übertragbar
Auf der anderen Seite zeigen internationale Studien ein breites Spektrum an fortgeschrittenen Methoden - von maschinellem Lernen über Szenarioanalysen bis hin zu stochastischen Verfahren. Diese Ansätze bieten theoretisch eine höhere Genauigkeit und Flexibilität, sind aber oft auf spezifische Fallstudien zugeschnitten und in der Praxis nur schwer direkt anwendbar.
Die wissenschaftliche Forschung bringt eine Vielzahl innovativer Modellierungsansätze hervor, die in kontrollierten Settings beeindruckende Ergebnisse liefern. Insbesondere datengetriebene Verfahren wie neuronale Netze oder ensemblebasierte Modelle ermöglichen die Verarbeitung großer, heterogener Datensätze und können komplexe Zusammenhänge erkennen, die traditionellen Methoden verborgen bleiben. Ebenso erlauben simulations- und agentenbasierte Modelle die dynamische Abbildung von Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Einflussfaktoren, wie z.B. Wetterextremen, demographischen Verschiebungen oder Verhaltensänderungen.
Der Transfer dieser Methoden in die Praxis erweist sich jedoch häufig als schwierig. Viele Modelle sind hochspezialisiert, benötigen große Mengen an qualitätsgesicherten Eingangsdaten oder setzen spezifische fachliche und technische Kompetenzen voraus. Zudem mangelt es häufig an offenen Schnittstellen, standardisierten Datenformaten und praxistauglichen Werkzeugen, die eine einfache Umsetzung in kommunalen Versorgungsunternehmen ermöglichen würden.
Ein weiteres Hindernis ist die mangelnde Integration zwischen akademischer Forschung und kommunaler Praxis. Während Wissenschaftler:innen im Rahmen von Pilotprojekten oder Fallstudien innovative Lösungen entwickeln, fehlt es oft an einer systematischen Validierung unter realen Bedingungen, langfristiger Finanzierung und institutioneller Verankerung. Dadurch bleiben viele Potenziale ungenutzt - sowohl hinsichtlich einer verbesserten Prognosequalität als auch hinsichtlich eines besseren Verständnisses der Einflussfaktoren auf den Wasserbedarf.
Um die Lücke zwischen Forschung und Anwendung zu schließen, bedarf es verstärkter Kooperationen, transdisziplinärer Projekte und Fördermechanismen, die den Praxistransfer explizit unterstützen. Nur so können die Stärken wissenschaftlicher Innovation nachhaltig für eine resilientere Wasserinfrastruktur genutzt werden.
Einflussfaktoren: Mehr als nur Wetterdaten
Die Wahl der richtigen Einflussfaktoren entscheidet über die Aussagekraft einer Prognose. Häufig genutzte Kategorien sind:
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Klimatische Faktoren wie Temperatur und Niederschlag
→ Beeinflussen saisonale und kurzfristige Schwankungen im Verbrauch, etwa durch Hitzewellen, Trockenperioden oder veränderte Vegetationszyklen. -
Sozioökonomische Entwicklungen, z. B. Einkommen oder Haushaltsstruktur
→ Höheres Einkommen kann zu wasserintensiverem Lebensstil führen; kleinere Haushalte haben tendenziell einen höheren Pro-Kopf-Verbrauch. -
Demografische Trends, insbesondere Bevölkerungsdichte und Altersstruktur
→ Wachstumsregionen benötigen zusätzliche Kapazitäten; ältere Bevölkerungen zeigen oft andere Verbrauchsmuster als jüngere. -
Technologische Veränderungen wie wassersparende Geräte
→ Moderne Haushalts- und Sanitärtechnik reduziert den spezifischen Verbrauch – teils deutlich, jedoch mit zeitlicher Verzögerung durch langsame Marktdurchdringung.
Je nach Versorgungsgebiet wirken diese Faktoren unterschiedlich stark. Eine pauschale Modellierung funktioniert daher selten.
Wasserwirtschaft 4.0: Zwischen Vision und Wirklichkeit
Ein zentrales Hemmnis für innovative Vorhersagemethoden ist die fehlende Standardisierung in der Wasserwirtschaft. Unterschiedliche Datengrundlagen, fehlende Schnittstellen und nicht vernetzte Systeme erschweren datenbasierte Entscheidungen. Die Idee der Wasserwirtschaft 4.0 - also die intelligente Verknüpfung von Sensorik, Datenplattformen und KI-gestützten Analysen - steckt vielerorts noch in den Kinderschuhen.
In der Praxis bedeutet das: Viele Versorger verfügen zwar über eine Vielzahl von Messdaten - etwa zu Durchflussmengen, Druckverhältnissen oder Verbrauchsspitzen -, doch werden diese Daten oft nur lokal genutzt und nicht systematisch zusammengeführt oder analysiert. Eine übergreifende Dateninfrastruktur, die verschiedene Quellen integriert, Echtzeitdaten verarbeitet und als Grundlage für adaptive Planungs- und Steuerungssysteme dient, ist bislang selten.
Zudem fehlen häufig klare Verantwortlichkeiten, technische Standards und organisatorische Rahmenbedingungen, um die Digitalisierung zielgerichtet voranzutreiben. IT-Sicherheit, Datenschutz und die langfristige Pflege digitaler Systeme stellen weitere Herausforderungen dar, insbesondere für kleine und mittlere Versorger mit begrenzten Ressourcen.
Gleichzeitig zeigen einzelne Modellregionen und Pilotprojekte das Potenzial einer digital vernetzten Wasserwirtschaft: Automatisierte Verbrauchsprognosen, intelligente Leckageerkennung, adaptive Netzsteuerung oder auch präzisere Planungsinstrumente können sowohl die Versorgungssicherheit als auch die Ressourceneffizienz deutlich erhöhen.
Um die Vision der Wasserwirtschaft 4.0 Wirklichkeit werden zu lassen, braucht es mehr als technische Innovationen. Gefragt sind neue Formen der Zusammenarbeit zwischen Kommunen, technischen Dienstleistern, Forschung und Regulierung - und gezielte Förderprogramme, die den digitalen Wandel auf strategischer Ebene begleiten und unterstützen.
Was lässt sich daraus ableiten?
Für Wasserversorger und kommunale Akteure ergeben sich daraus konkrete Handlungsfelder:
- Systematische und einheitliche Datenerhebung etablieren
- Bereits vorhandene Daten für datengetriebene Modelle aufbereiten
- Modelloffenheit zulassen: klassische Verfahren mit neuen Methoden kombinieren
- Pilotprojekte starten, um praxistaugliche KI-basierte Prognosen zu erproben
- Plattformlösungen schaffen, um Daten intelligent zusammenzuführen
Ausblick: Prognosen brauchen Datenstrategie
Langfristige Wasserbedarfsprognosen sind keine reine Rechenaufgabe - sie sind ein zentraler Baustein für die Versorgungssicherheit von morgen. Der Weg dorthin führt über saubere Daten, intelligente Modelle und interdisziplinäres Denken. Wer heute in intelligente Prognosesysteme investiert, stärkt nicht nur die eigene Infrastruktur, sondern schafft echte Resilienz im Umgang mit einer immer komplexeren Zukunft.
Dabei geht es nicht nur um technische Lösungen, sondern auch um strategisches Datenmanagement: Welche Daten werden erhoben? Wie werden sie gespeichert, ausgetauscht und genutzt? Und wie gelingt es, aus reinen Messwerten handlungsrelevante Erkenntnisse zu gewinnen? Nur mit einer klaren Datenstrategie lassen sich moderne Prognoseverfahren sinnvoll integrieren und nachhaltig betreiben.
Gleichzeitig braucht es Mut zur Veränderung - in Organisationen, Prozessen und im Denken. Die Entwicklung zukunftsfähiger Systeme erfordert Offenheit für neue Methoden, die Bereitschaft zur Zusammenarbeit über Disziplinen und Zuständigkeiten hinweg sowie gezielte Investitionen in digitale Kompetenzen.
Wie smart data worx unterstützen kann
Um die Transformation der Wasserwirtschaft aktiv mitzugestalten, entwickeln wir bei smart data worx datenbasierte Lösungen, die Versorger dabei unterstützen, Wasserbedarfsprognosen zuverlässiger, transparenter und flexibler zu gestalten. Durch die intelligente Verknüpfung von Datenquellen, digitalen Werkzeugen und unserem fachlichen Know-how schaffen wir die Grundlage für eine moderne und zukunftsorientierte Wasserbedarfsplanung - als Beitrag zu einer nachhaltigen und resilienten Daseinsvorsorge.
Wer tiefer in das Thema einsteigen möchte, dem sei die Dissertation von Marius Wybrands aus unserem smart data worx Team empfohlen:
„Integration von langfristigen Wasserbedarfsprognosen in wasserwirtschaftliche Informationssysteme“